Deine Stimme zurückerobern. Pam Younghans

von Maya Fleischer

Als ich klein war, lernte ich, dass „brav sein“ bedeutete, still zu sein. Nicht nur mit meiner Stimme, sondern auch mit meinen Bedürfnissen. Meinen Gefühlen. Sogar mit dem Raum, den ich einnahm.

Ich erinnere mich nicht daran, dass mir jemand jemals ausdrücklich sagte: „Sprich nur, wenn du gefragt wirst.“ Aber ich spürte es – in den zusammenzuckenden Reaktionen, wenn ich zu laut war, in der Spannung, wenn ich weinte, in dem subtilen Lob, wenn ich ruhig, gefällig, angepasst, klein blieb. Ich spürte es im erleichterten Aufatmen der Erwachsenen, wenn ich keinen Aufstand machte. Ich spürte es in dem Moment, als ich aufhörte, um das zu bitten, was ich wollte.

„Brav sein“ bedeutete für mich irgendwann: das Boot nicht zum Schaukeln bringen.

Ich erinnere mich, wie mir jemand einmal sagte: „Du bist so ein gutes Mädchen – du beschwerst dich nie.“ Und ich trug diesen Satz wie eine Medaille. Ich erinnere mich, dass ich in meinem Zimmer weinte, statt beim Abendessen etwas zu sagen. Dass ich „Mir geht’s gut“ sagte, obwohl meine Brust schmerzte vor all den ungesagten Worten. Ich wollte keinen Ärger machen. Ich wollte einfach nur leicht zu lieben sein.

Also lächelte ich durch Unbehagen. Nickte, wenn ich eigentlich Nein sagen wollte. Biss mir auf die Zunge, wenn ich etwas Wahres sagen wollte. Ich wurde angenehm, anpassungsfähig, gemocht.
Und völlig von mir selbst abgeschnitten.

Der Körper bewahrt das Schweigen

Lange Zeit hielt ich das für einen bloßen Persönlichkeitszug. Ich redete mir ein, ich sei einfach unkompliziert. Sensibel. Eine Friedensstifterin.

Doch in Wahrheit hatte ich ein Überlebensmuster meines Nervensystems verinnerlicht: Fawning – ein subtiler, oft unsichtbarer Anpassungsmechanismus, bei dem Sicherheit nicht durch Flucht oder Kampf gesucht wird, sondern durch Beschwichtigung. Man wird zu dem, was andere brauchen. Man sagt, was sie hören wollen.

In meinem Körper zeigte sich das so:

  • Den Atem anhalten in angespannten Gesprächen
  • Lächeln, obwohl ich Angst hatte
  • Worte herunterschlucken, die in meiner Kehle aufstiegen
  • Erschöpfung nach sozialen Begegnungen, ohne zu verstehen, warum

Es war nicht bloß soziale Angst oder Schüchternheit. Es war ein tief eingeprägtes Überlebensmuster – eines, das prägte, wie ich mich bewegte und wie ich Beziehungen lebte. Ich hatte noch nicht die Worte dafür. Aber ich konnte den Preis spüren.

Das Schweigen, das ich trug, begann nicht nur seelisch, sondern auch körperlich zu schmerzen.
Mein Kiefer verkrampfte. Meine Schultern fielen nach vorne. Meine Brust fühlte sich wie ein verschlossener Raum an. In Gesprächen war ich benommen, in Beziehungen distanziert, unsicher, wo ich begann und wo ich endete.

Wenn man sich chronisch zum Schweigen bringt, um sicher zu bleiben, beginnt der Körper zu flüstern, was die Stimme nicht sagen kann.

Das erste Mal, dass ich „Nein“ sagte

Es war kein dramatischer Moment. Kein Streit, kein Türknallen. Es war ein stilles Abendessen mit jemandem, bei dem ich mich nicht ganz sicher fühlte. Sie baten mich um etwas, das eine Grenze überschritt. Und zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben sagte ich nicht automatisch Ja. Ich hielt inne.

Ich hörte das alte Drehbuch: Sei nett. Mach keinen Ärger. Sag Ja, es ist einfacher.
Doch etwas in mir – ein leiser, weiserer Teil – blieb standhaft.

Ich atmete. Ich sagte: „Nein, damit bin ich nicht einverstanden.“

Und obwohl mein Körper zitterte, brach ich nicht zusammen. Es geschah nichts Katastrophales. Ich ging nach Hause und weinte – nicht vor Angst, sondern vor Erleichterung.

Das war einer der ersten Momente, in denen ich spürte: Ich kann mich selbst wählen.
Auch wenn es sich unnatürlich anfühlt. Auch wenn ich nicht wusste, was als Nächstes kommt. Dieser Moment veränderte etwas in mir. Nicht über Nacht. Aber er pflanzte einen Samen.

Meine Stimme zurückerobern – Atemzug für Atemzug

Es war keine große, laute Revolution. Sondern ein langsames Entfalten. Es sieht so aus:

  • Mir ein paar Sekunden nehmen, bevor ich antworte – auch wenn Stille unangenehm ist
  • Mit Gefühlen sprechen, statt alles „vernünftig“ zu filtern
  • Aussprechen, was ich brauche – auch wenn meine Stimme zittert
  • Pausen einlegen nach Begegnungen, die mich erschöpfen – ihre Wirkung anerkennen
  • Aufschreiben, was ich sagen wollte – auch wenn es nie laut ausgesprochen wird

Manche Tage gehe ich immer noch ins Schweigen. Ich spüre noch die alte Angst, dass meine Wahrheit Brüche, Ablehnung oder Schmerz bringt. Manchmal übe ich einen Satz fünfmal, bevor ich ihn einmal sage. Aber ich habe gelernt: Jedes Mal, wenn ich mir selbst zuhöre, sogar nur mit der Hand auf meinem Herzen, schaffe ich Sicherheit von innen heraus.

Und langsam veränderte sich mein Körper. Ich stand etwas aufrechter. Mein Atem ging leichter. Ich fühlte mich präsenter – mehr ich selbst, nicht nur eine Spiegelung dessen, was ich dachte, dass andere wollten.

Was mir half, den Anfang zu machen

Manchmal ist es nicht Mut, der zuerst kommt, sondern Trauer.
Trauer um all die Momente, in denen wir nicht gesprochen haben. Um die Versionen unserer selbst, die alles in sich hineingefressen haben. Ich musste lernen, dieser Trauer sanft zu begegnen – nicht als Versagen, sondern als Beweis dafür, wie sehr ich versucht habe, sicher zu bleiben.

Mein Weg begann nicht mit Selbstsicherheit, sondern mit Mitgefühl:

  • Meine Momente des Schweigens mit Neugier betrachten, statt mit Scham
  • Mich fragen: Wovor hatte ich Angst, wenn ich sprach? Was geschah früher, wenn ich es tat?
  • Eine Hand auf meine Brust legen und mir sagen: „Du bist nicht schlecht, weil du still warst. Du wolltest nur sicher bleiben.“

Und als ich bereit war, wagte ich kleine Schritte:

  • Statt einer Textnachricht eine Sprachnachricht schicken
  • Sagen: „Ich brauche einen Moment zum Nachdenken“ statt sofort zu antworten
  • „Ich bin anderer Meinung“ sagen, wo ich sonst nur genickt hätte

Keine großen Sprünge. Aber jeder Schritt zeigte meinem Nervensystem eine neue Wahrheit: Es ist sicher, eine Stimme zu haben.

Wenn auch du still warst

Wenn du dich in dieser Geschichte wiedererkennst, möchte ich, dass du weißt:
Du bist nicht schlecht, weil du geschwiegen hast. Du warst weise. Dein Nervensystem hat sein Bestes getan, um dich zu schützen.

Und wenn du jetzt spürst, dass es dich zieht, zu sprechen – ein bisschen mehr Raum einzunehmen, „Nein“ oder „Ich weiß nicht“ oder „Ich brauche einen Moment“ zu sagen – dann darfst du diesem Impuls vertrauen.

Du musst nicht laut oder bestimmend werden. Deine Stimme zurückzuerobern bedeutet nicht, andere zu übertönen. Es bedeutet, dich selbst einzubeziehen. Deine Wahrheit zu ehren. Deinem Körper ein Ausatmen zu erlauben.

Du darfst gehört werden.
Du darfst dir Zeit nehmen.
Du darfst dich entfalten – Atemzug für Atemzug.

Deine Stimme ist keine Bedrohung. Sie ist eine Brücke – zurück zu dir selbst.
Dein Schweigen hat dich einst geschützt. Aber jetzt kann deine Wahrheit dich befreien.

(Veröffentlicht auf tinybuddha.com/blog/why-i-learned-to-stay-quiet-to-be-good/)
Artwork von Claudia Tremblay

https://www.facebook.com/reel/1989981308485596

© Übersetzung Rosi … https://www.esistallesda.de/