Ich glaub, ich bin angekommen. Anja Reiche

Ich glaub, ich bin angekommen. Anders als man das gemeinhin meint. Angekommen an der tiefsten Urwunde. An der Urverletzung, die unter allen anderen Verletzungen lag, unter allen Traumaschichten, unter Wut, Kampf, Empörung.

Angekommen am Urdilemma. Durchgestorben bis in die unterste Schicht. Rausgekommen am Ursprung von allem: Die dauerhafte Erfahrung als Kind, mit meiner emotionalen Ganzheit nicht landen zu können, damit keinen Platz zu haben im Umfeld, damit und darin schon gar nicht sein und forschen zu dürfen. In mir seiend. Bei mir bleibend.

Ich mag euch mitnehmen.

Meine Erfahrungen als Kind waren folgende:

• Das, was in meinem Körper los ist, wird nicht mit mir erkundet. Niemand kommt in meine Welt und hilft mir, mich zu begreifen. Gefühle, Empfindungen, innerliche Zustände und Atmosphären bleiben ungeklärt, unerklärt, unbenannt, unbegriffen.

• Ich kann keinen Umgang mit dem erfahren, was in mir los ist. Ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Da ist Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit, Überforderung damit.

• Ich bin mit meinem Empfinden ganz alleine. Die anderen scheinen das weder zu kennen noch zu haben.

• Mir wird gesagt, dass ich anders empfinden soll, wie ich es gerade tue, dass meine Gefühle nicht begründet sind, dass es erstrebenswerter wäre, wenn ich anders empfinden würde, anders wäre. Dass das vielleicht sogar richtiger ist.

• Mein Empfinden ist dennoch da und passt überhaupt nicht zu dem, was mir erzählt wird. Dauerhafte Irritation und Verwirrung. Dauerhafte Zerrissenheit. Dauerhaft passt mein Innen nicht zum Außen.

• Ich muss von meinem Empfinden weggehen, mich damit/darin verlassen und eine Wahrheit von außen akzeptieren, die ich nicht fühle. Ich soll mich entsprechend dieser Wahrheit von außen verhalten, ihr folgen, so handeln, als wäre sie meine. Ich soll sie anerkennen und mich ihr fügen, obwohl etwas in mir völlig konträr dazu ist.

• Das Ganze geschieht in der Kindheit nicht ab und zu. Das Ganze ist dauerhaft, weil ich mit Menschen umgeben bin, die sich selbst nicht fühlen, die abgetrennt sind und das Gleiche mit sich machen mussten. Natürlich verlangen sie es von mir. Sie können mir nur den Fühl- und Selbsterforschungsraum zur Verfügung stellen, den sie selbst haben. Sie können an mir nur das akzeptieren, was sie sich selbst an Gefühlen und Empfindungen zugestehen.

• Ich komme in Not, weil sie ihren Nöten nicht begegnen wollen/können bzw. nicht mal ahnen, dass sie Nöte und Wunden haben.

• Dieses Dilemma mit allen Facetten und Auswüchsen ist dauerhaft in mir aktiv. Ich bin darin alleine. Von allen verlassen oder besser gesagt, es war noch nie jemand da. Ich wurde nicht verlassen. Es war von Anfang an verlassen SEIN. Keine Menschen, kein Gott, maximale Trennung von außen und dann die erwartete Trennung von mir selbst. Kurz: Horror als Grundzustand.

Über die Jahre habe ich meine Innenwelten nachträglich selbst erforscht. Das getan, was damals die Eltern mit mir zusammen hätten tun sollen. Mein Empfinden gelernt zu verstehen, Begriffe dafür gefunden, mich begriffen. Ich kenne meine Welt in und auswendig und erschließe sie mir immer weiter, feiner, detaillierter.

Mit dem, was ich herausgefunden habe und jetzt verstehe, was da immer in mir los war und warum, was meine Nöte ausgemacht hat, meine Einsamkeit, meinen Druck und die Verzweiflung, wenn mein Innenerleben nicht zu dem gepasst hat, was die anderen von sich gegeben haben und von mir als Konsequenz daraus erwartet haben, kam natürlich die Wut, die Empörung, das Entsetzen, ein Aufschrei nach dem nächsten in mir, immer wieder Fassungslosigkeit darüber, was da mit mir getrieben wurde und was ich mit mir hab machen lassen (müssen), schlicht, weil ich keine Worte dafür hatte, es nicht begriffen und erkannt hatte.

Diese Wut, die nachträglich natürlich kommt, dann aber nicht mehr Wirkung zeigen kann, kein Stopp mehr damit gesetzt werden kann, weil es einfach rum ist, zu spät, ist so fies und widerlich und für mich sehr herausfordernd. Ich fühle sie durch und durch, berechtigt und in der Intensität, die zur Situation gehört, und kann sie nicht mehr platzieren, damit nichts mehr bewirken an der richtigen Stelle, weil der Moment vorüber ist. Ich hab mir darin Luft gemacht, ihr Raum gegeben, Ausdruck, sie zusammen mit der Ohnmacht gefühlt, anerkennend, mich komplett davon ergreifen lassen. Kinder darin aufgespürt, die Erwachsene darin erkannt. Jedes Mal. Wieder und wieder und wieder.

Und darunter? Unter all den Schichten? Die Urwunde. Der Schmerz von all den Momenten, in denen ich mich hab stehen lassen müssen als Kind. Aufgetaucht ist meine Fünfjährige, die jetzt erfährt, wie recht sie hatte mit ihren Empfindungen. Es fühlt sich an, als würde alles, was ich mir die letzten Jahre erschlossen habe, genau da hin fließen. Zu ihr. Und alles tausend Mal unterstreichen, was sie eh schon gefühlt hat und aber keine Chance, keine Worte, keinen Überblick hatte, die Zusammenhänge einfach nicht erfassen konnte. Natürlich nicht. Jetzt weiß sie bescheid.

Es ist, wie wenn ich das Puzzle, das ich über die Jahre zusammengesetzt habe, das Gesamtbild, in dem alle Beteiligten mit ihren „Rollen“ inklusive mir entschlüsselt sind, vor ihr ausbreite und sie sich und alles endlich verstehen kann. All das Leid, die Verwirrung, die Verzweiflung, die Kämpfe, die Irritationen, alles, was es eben bedeutet hat, wenn meine emotionale Gesamtheit nicht ansatzweise landen kann.

Und damit kam das Beweinen. Das Beweinen dessen, dass es war wie es war. Ein anerkennendes, bezeugendes, zutiefst verstehendes Weinen. Das Weinen danach. Das Weinen, das möglich ist, wenn etwas vorbei ist. Es ist nicht mehr das Mittendrin-Weinen, das da ist, wenn etwas gerade geschieht oder sich etwas erschließt und zum ersten Mal erfasst und berührt wird. Das Weinen danach und darüber ist anders. Nicht minder tief, aber ruhiger irgendwie. Umfassender. Ganzheitlicher. Größer.

Gefühlt ist da ein riesengroßer Bogen geschlagen. Der letzte Kampf, den ich in den letzten Jahren als Erwachsene erlebt habe – mir einen emotionalen Landeplatz bei engen Bezugspersonen „erarbeiten müssen“ – war auch mein erster Kampf, der erste meines Lebens. Diese Fünfjährige hat (spätestens) damit angefangen, in ihrem Umfeld darum zu kämpfen, dass sie mit ihrem Empfinden Platz haben kann. Sie hat aufmerksam gemacht, sie hat sich gewehrt, sie hat versucht zu erklären, sie hat vehement von sich gewiesen, sie hat versucht, die anderen dazu zu befähigen, wollte deren emotionale Gefäße weiten, sie mit sich in Kontakt bringen, ihnen ihre Verantwortung klar machen. Natürlich ohne Erfolg.

Was für ein starkes, schlaues, zähes Mädchen. Sie hat sich nie ganz verlassen. Sie hat nicht wirklich angefangen gegen sich selbst zu kämpfen, sondern im Außen dafür, dass sie Raum bekommt. Sie musste hart werden, in dem Bemühen einen sicheren Rahmen zu schaffen, in dem sie endlich weich und verletzlich sein kann. Sie wollte nie hart sein. Ganz im Gegenteil. Sie wollte einfach nur in ihrer fühlenden Ganzheit da sein, mit ihrem ganzen, weiten Wesen, mit ihrem offenen, großen Herzen und nicht ständig die emotionale Begrenztheit und Zerstückelung der anderen, als ihre Grenzen akzeptieren müssen, nicht ständig Pfeile und Messer abbekommen, die andere in ihrem Kampf gegen sich selbst auf sie abgefeuert haben.

Das war (?) der Kampf meines Lebens. Immer. Wenn ich keinen Erfolg hatte und gehen konnte, bin ich gegangen. Überall. Die emotionale Heimatlosigkeit ist geblieben. Der Landeplatz hat wieder gefehlt. Ich war gut mit mir da, war mir selber dieser Landeplatz mehr und mehr geworden, aber das schien nie zusammen mit engen Bezugspersonen zu gehen. Nie war deren Welt groß genug für meine. Nie konnten sie in meine innere Welt, in meine emotionale Welt, ich musste für ein Minimum an Kontakt in ihre, was mir sehr leicht fiel, schon immer. Die Sehnsucht nach einem Raum, in den ich hineinpasse, während ich emotional komplett bei mir bin und bleiben kann, blieb.

Das große Bild liegt also vor mir. Vor mir als Erwachsene. Vor der Fünfjährigen. Darin alle Schichten, Facetten, Zusammenhänge, Dynamiken, Gefühle, Herausforderungen, mit denen ich im Zuge dieses Kampfes je zu tun hatte. Der Grund für den Kampf an sich, ebenfalls aufgeschlüsselt. Das ganze „Spiel“. Der Urkampf. Das Grunddilemma und alles, was darauf aufgebaut hat. Durchdrungen, durchfühlt, in umgekehrter Reihenfolge.

Es war in Wahrheit nie richtig und natürlich, dass ich das, was ich empfunden habe, meine gefühlte, emotionale Wahrheit, verlassen musste, um einer anderen von außen zu folgen. So war es nie gedacht vom ursprünglichen Leben. Mein pures Empfinden, das da war, war nie das Problem. Diese Verknüpfung von „mein Empfinden führt zu Problemen im Außen und bringt damit wiederum mich in Schwierigkeiten“ ist nicht korrekt. Es ist nicht korrekt, dass das Problem, das die anderen damit hatten, letztlich zu meinem wurde. Es ist richtig, dass ich in und bei mir bleibe. Einfach nur richtig.

Da ist Ehrfurcht. Staunen. Betroffenheit. Mitgefühl. Stolz. Eine gewisse Heiligkeit und unglaublich viel Ruhe. Es fühlt sich groß an, was da „geschieht“, geschehen ist, was das bedeutet. Es wird Auswirkungen haben – dessen bin ich mir sicher – von denen ich noch keine Ahnung habe.

Es ist erstaunlich und irgendwie so bezeichnend, dass ausgerechnet jetzt, an diesem Wochenende, an dem sich dieser unglaublich große Kreis geschlossen hat, meine Bank, bei der ich mein Konto habe, seit ich 16 Jahre alt bin, eine Fusion vollzieht und ich eine neue Kontonummer bekomme. Das erste Mal in meinem Leben. Das Bankkonto, das ich damals eröffnet habe, als ich meine Ausbildung begonnen habe und damit meine erste „Flucht“, gibt es nicht mehr. Ich wollte damals einfach nur Geld verdienen, um möglichst schnell von zu Hause ausziehen zu können, weg von dem Feld, das mir so gar kein emotionaler Landeplatz sein konnte. Mit diesem Bankkonto ist unglaublich viel verbunden. Genau dieser Kampf. Meine schier endlose Suche. Mein ganzes „altes“ Leben, das doch die Basis von allem Neuen ist. So auch nun mit dem Konto. Die kleine Bank wird in eine größere integriert. Das Alte geht in etwas Neues über, ist darin unweigerlich enthalten und dennoch wird es ganz anders weitergehen.

Da bin ich also. Im Grunde ist nichts anders und gleichzeitig irgendwie alles. Eine Welle, in der ich mich (ein großer (?) Teil von mir) Zeit meines Lebens befunden habe, hat mich gefühlt ausgespuckt und an Land gespült. Ich hab Boden unter den Füßen, weiß endlich wieder, wo oben und unten ist. Der Kopf schwirrt noch ein wenig. Mir ist noch etwas schwummrig von dem Wirbel. Aber da ist fester Boden. So fühlt es sich gerade an.

Damit will ich es für den Moment bewenden lassen. Ich danke jedem Einzelnen, der dazu beigetragen hat – angenehm und unangenehm – das alles zu durchdringen, jede Schicht zu berühren, zu nehmen und da durch zu kommen. Endloser Dank für diesen Dienst. Endloser, ewiger Dank.

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