Die Illusion der Kontrolle. Anja Reiche

Ich kann mich an Zeiten erinnern, da hatte ich furchtbare Angst, in den Sternenhimmel zu schauen. Es hat mich unfassbar geängstigt, was ich da vielleicht sehen könnte. Sternschnuppen haben mich eher erschreckt als fasziniert. Diese unendliche Weite, alles, was da sein könnte, alles, was ich nicht weiß und kenne, hat mich eng gemacht, fast Panik ausgelöst, Starre, die Luft blieb weg.

Der Sternenhimmel war ein Sinnbild für alles, was ich nicht in der Hand habe, für Ungewissheit, Unvorhersehbarkeit, für Unbekanntes, für Kontrollverlust und Ohnmacht. Mit diesem ALLes war auch alles im Raum, was ich nicht wahrhaben wollte und konnte. Es hätte mich damals schier zerrissen. Ich war nicht in der Lage, das ALLES anzuerkennen und JA dazu zu sagen. Ich war nicht in der Lage anzuerkennen, was das Anerkennen des „es gibt ALLES“ für mich bedeutet hätte.

Der Blick ins Universum hat mich bedroht. Es fühlte sich an, wie plötzlich den Boden unter den Füßen verlieren, ins Haltlose fallen, allein, überfordert. Das war alles zu groß für mich, nicht handelbar, überwältigend auf unangenehme Art und Weise. Konfrontiert mit etwas, was zu viel für mich war, in dem ich gefühlt nicht bestehen konnte. Grenzenlose Überforderung mit den Gefühlen, die ausgelöst worden wären, wenn ich hingeschaut hätte. Das trifft es wirklich am besten. Das hätte ich damals aber niemals in Worte fassen können. Das kann ich heute sagen.

Ich brauchte seinerzeit die Illusion der Kontrolle und ich wollte nichts hören oder sehen, was das ins Wanken gebracht hätte. Naja, Überraschung. Mir lief es ständig über den Weg. Das Mystische. Das Feinstoffliche. Geistergeschichten. Krankheiten. Eben das Unkontrollierbare. Ich kam nicht daran vorbei. Und irgendwann hab ich es genommen und fing an zu forschen. Wie verdammt nochmal ist dieses Leben denn eigentlich wirklich gedacht? Wie hängt alles zusammen? Warum sind wir hier? Was hat das alles für einen Sinn? Was ist Gott? Was geschieht nach dem Tod? Ich fing an, meine eigenen Antworten zu finden.

Schaue ich heute in den Sternenhimmel, sehe ich da nur Schönheit. Ich kann nicht genug davon bekommen, mich nicht sattsehen und Stunde um Stunde da sitzen, um nur ja nichts zu verpassen. Ich sehe Möglichkeiten. Ich liebe die unendliche Weite. Das Unbekannte. Die Rätsel. Das Nichtwissen. Die Mystik. Das ALLes.

Ich fühle mich darin zu Hause, getragen, geborgen, fühle Liebe. Von mir zum Leben und vom Leben zu mir. Ich höre das Nichts. Bin fasziniert von dieser Intelligenz und dem, was sie alles hervorbringen kann. Ich fühle mich sicher. So sicher darin. In mir. In dieser Unendlichkeit. In Gott. Ich fühle mich wesentlich und gewollt. Ich liebe meine Ohnmacht darin, dieses mich von all dem leben lassen, mich führen lassen und darin die größte Macht zu finden, die es nur geben kann. Ich bin nichts und ich bin alles gleichzeitig. Ich kann das „Unmögliche“ bewirken, wenn es durch mich sein soll. Ich kann nichts bewirken, wenn es durch mich nicht sein soll. Und das ist in Ordnung.

Es nicht in der Hand zu haben, war damals mein größter Horror. Es nicht in der Hand zu haben, ist heute meine größte Freiheit, die mächtigste Erleichterung, die ich je erlebt habe. Ich muss es nicht wissen. Ich muss es nicht können. Ich muss es nicht machen. Ich darf mich hingeben. Ich bin froh, wenn ich ins Ungewisse gehen kann, wenn ich keine Ahnung und keinen Plan haben muss, wenn ich einfach nur der inneren Navigation folge, die um das große Ganze weiß, mir aber lediglich den einen nächsten Schritt übermittelt.

Die Bereitschaft, alles zu fühlen, jede Erfahrung zu machen, urteilsfrei und bereitwillig, das zu nehmen, was das Leben mir gibt, weil ich weiß, dass das einen Sinn hat, dass ich nichts bekomme, was mich von mir weg führt, dass ich immer nur das bekomme, was mich zu mir hinführt, dass es der Kosmos gut mit mir meint und übergeordnet nichts zu meinem Schaden passieren kann, dass ich, was auch immer geschieht, reif dafür bin und alles in mir trage, es zu bewältigen, diese Bereitschaft und all diese Gewissheit sind der große Unterschied zu damals. Das alles habe ich über die Jahre in mir gefunden.

Kontrolle ist die größte Illusion überhaupt. Und gefühlt die, an der die meisten am stärksten festhalten. So wie ich damals. Dass ich das Ungewisse mal so genießen würde, war unvorstellbar, ja, es kam gar nicht in meinem Weltbild vor, dass Ungewissheit sein darf. Hätte mir da jemand erzählt, wie ich heute lebe, weiß ich nicht, ob ich gelacht oder geweint hätte oder schreiend weggelaufen wäre. Heute bin ich der Mensch, der mich damals am meisten abgeschreckt hat. Ich wollte in Ruhe gelassen werden und mit nichts in Berührung kommen, was an meiner Scheinsicherheit gerüttelt hätte. Da konnte ich niemanden gebrauchen, der, wie ich heute, überall seine Nase reinsteckt, in jeden Winkel schaut, sich bereitwillig mit Dingen befasst, die jenseits der eigenen „Kontrolle“ liegen, der kein Tabu kennt und keine Sicherheit braucht, der das „ich bin ALLES und es gibt ALLES“ verkörpert.

Ich kann verstehen, dass Menschen Angst vor mir haben. Hätte ich damals auch gehabt. Im Grunde bin ich der Kontrollverlust in Person. Mit mir ist er im Raum. Ich zerstöre die Illusion durch meine bloße Existenz. Es gibt einen Teil in mir, der ist voller Mitgefühl. Es gibt einen Teil in mir, der grinst spitzbübisch und liebt die Provokation. Und der Großteil von mir genießt einfach nur dieses Lebensgefühl. Dass ich mal so da bin, dass sich Leben so anfühlen kann, hab ich nicht für möglich gehalten. Was für eine Gnade! Was für ein Segen!

Jenseits vom Kontrollverlust liegt mein persönliches Paradies.

Mal wieder danke, Barbara, dein Gemälde vom Universum haben all diese Reflexionen in Gang gesetzt und mich zu diesem Text bewegt.

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