Andrea Riemer: „Im Niemandsland zwischen Alt und Neu – Übergänge gestalten“

Im Niemandsland zwischen Alt und Neu – Übergänge gestalten
Andrea Riemer
Wir leben in aufregenden Zeiten … wie oft habe ich damit meine Essays in den vergangenen beiden Jahren begonnen … es wird langsam langweilig, Wiederholungen über Wiederholungen. Gibt es denn nichts Neues zu berichten? Immer Ähnliches.
Nun denn – offenbar haben es viele noch nicht erkannt. Es mangelt gravierend an Bewusstsein für das, was sich mehr und mehr zeigt. Nein – es geht hier nicht um Esologie, um esoterische Gebrabbel und Gequatsche. Es geht nicht um Weltuntergangsszenarien.
Es geht mir in meinen Essays und Gedanken um das Bewusstsein, dass wir in einem der größten Umbrüche im Kollektiv leben. Wir sind mitten drin. Keine/r kann sich ausnehmen. Es geht uns ausnahmslos alle an. Den einen mehr, die andere weniger. Doch sich aus dem Spiel herausnehmen, nein, das ist nicht möglich. Augen zu und durch ist nicht mehr möglich. Sich wegdrehen und so tun, als gehörte man nicht dazu … eine Option, doch letztlich auch nicht möglich, weil wir alle miteinander verbunden sind, ob wir es wollen oder nicht, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Lapidar kann man festhalten, dass sich vor allem seit 2008 eine Menge im Gesellschaftlichen verändert hat und wir uns im vielzitierten gravierenden Umbruch befinden. Dafür gewinnt man noch keinen Blumentopf. Auch keine große Tageszeitung wird dafür einen Aufmacher bereithalten. Vielleicht wird man für die No-na-Feststellung auf sozialen Medien als Naivling und Dummschwätzer gebrandmarkt. Auch gut. Ich will dieser Feststellung doch weiterfolgen und sie mit inhaltlich-strukturellen Gedanken befüllen.
Ich nehme in meinen Betrachtungen sehr gerne dieses Jahr 2008 als Referenzpunkt, weil die Spekulationskrise ein für die meisten unvergesslicher Moment bleibt. Natürlich kann man auch andere Einstiege wählen. Ich bleibe bei 2008 und der Spekulationskrise. Viele haben bis dahin nach Herzenslust und motiviert vom Banker seines Vertrauens finanziell gezockt und sich von der damals herrschenden Gier mitreißen lassen – um dann mit einigermaßen leeren Händen dazustehen. Dieses Erlebnis hat zu einigen maßgeblichen Veränderungen in Denkstrukturen geführt.
Die Tiefenstruktur, also das, was eine Gesellschaft und auch eine Gemeinschaft zusammenhält und für die meisten nicht erkennbar ist, verändert sich oft langsam und für die Mehrheit unmerklich. Eine Neuerung hier, eine kleine, unscheinbare Veränderung da. Nichts Besonderes für sich genommen. Es ist wie ein Schneeball, der größer wird. Manches Mal ruckelt es und es tun sich größere Veränderungen. Irgendwann, irgendwann stellt man fest, dass sich doch etwas markant verändert hat – oft ohne das Zutun einer größeren Gruppe. Steter Tropfen höhlt den Stein. Nun ist es passiert. Wenn diese Veränderung in mehreren gesellschaftlichen Bereichen gleichzeitig ungleichzeitig geschieht, dann ist dies besonders spannend. HistorikerInnen und historische SoziologInnen lieben die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit und die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit. Nun – wir sind mitten drinnen in der Lage. Das Wasser ist höchst unruhig. Wellen kommen aus ungeahnten Ecken. Es stürmt und wir wissen nach wie vor nicht so recht, wie wir mit dieser Lage umgehen sollen und können.
Wie war das vor allem in den vergangenen 9 Jahren?
Ich will hier in meinen Gedanken beispielhaft und natürlich nicht erschöpfend antworten. Mir geht es um das Aufzeigen von Impulsen, um zum Nachdenken anzuregen. Es geht mit darum, die Komplexität der Lage aufzuzeigen, die Verwobenheit und damit gleichlaufende Schwierigkeit, die Lage mit alten Mitteln unter Kontrolle zu bekommen. Mir geht es um die Schaffung von breitem Bewusstsein für das, was ist und was kommen mag. Machen wir eine kurze Tour d’horizon.
Sie erinnern sich an die Finanzkrise und die folgende Rettung der Bankenszene? Sehen Sie sich die Bankenlandschaft heute, 2017 an. Die Filialnetze schrumpfen im Tagestakt. Die Ergebnisse einer bemerkenswerten Hybris im Spekulationsbereich treten laufend zu Tage, nicht erst seit 2017. Ich muss hier keine Namen nennen. Das Geldsystem ist wohl eines der kranken Systeme. Hochspekulativ, auf Versprechen aufgebaut, praktisch nicht mehr mit Substanz wie Gold und anderen Edelmetallen seit Jahrzehnten besichert, ist es einer der ganz großen Risikofaktoren für das menschliche Zusammenleben. Wohl auch, weil Geld – ich schreibe hier mehrheitlich von Buchgeld, denn physisches Geld ist die absolute Minderheit – das Tauschmittel schlechthin geworden ist. Wie funktioniert unser Zusammenleben OHNE dieses Tauschmittel? Darüber sich Gedanken zu machen, ist nicht realitätsfern, sondern ein Gebot der Stunde. Es geht mir darum, über Alternativen nachzudenken, wenn das Geld einmal zeitweilig „ausfällt“. Tauschwirtschaft als throwback? Einfach mal zum Nachdenken. Sie müssen ja nicht sofort antworten.
Die immer wieder diskutierte Abschaffung von Bargeld mit einer gleichzeitigen rigiden Kontrolle der Geldströme fällt übrigens auch in diesen Bereich. Leben wir in einem Plastikkartenspiel der besonderen Art? Gibt es Geld gehen Fingerprint und Retinaerkennung? Gibt es Geld virtuell? Lassen Sie Ihre Fantasie spielen. Sie lesen – ein hochinteressanter Bereich mit ungeahnten Folgewirkungen. Nichts ist unmöglich.
Sehen Sie sich das Rentensystem an. Wer kann eine staatliche Rente heute garantieren – bei einer laufend älter werdenden Bevölkerung mit einer – Dank des fantastischen Gesundheitssystems, das auch von innen her mehr und mehr erodiert – deutlich gestiegenen Lebenserwartung. Dies gilt vor allem für die sogenannte moderne Welt. Alleine in diesem Bereich zeigt sich schon der Widerspruch. Medizinischer Fortschritt und gleichzeitig gestiegene Lebenserwartung sind nicht mehr finanzierbar. D.h. wir können uns – früher oder später – ein längeres Leben im Großen nicht mehr finanziell leisten – oder wollen wir es nicht? Was bedeutet das konkret?
Zudem ist der Unterschied zwischen Arm und Reich größer denn je. Hinzu kommt, dass die eine Gesellschaft immer tragende Mittelschicht mehr und mehr auseinander fällt. In Deutschland wird es z.B. selbst für eine finanziell durchaus wohlhabende Mittelschicht immer schwieriger, leistbaren Wohnraum in urbanen Gegenden zu finden. Nun kann man sagen – geht doch in den Randbereich. Doch auch dieser – liebevoll Speckgürtel genannt – wird immer weniger leistbar. Abgesehen davon, dass es dann an Infrastruktur fehlt und – bei aller Verbundenheit – die Wege zur Überbrückung doch relativ lang und oft umständlich in ihrer Überwindung sind. Wir wollen doch weg vom Auto – aus Umweltschutzgründen. Und dass Umweltschutz keine Chimäre ist, sondern mehr als nur ein Gebot der Stunde, das mag zwar bei einigen wenigen in Washington noch nicht angekommen sein. Die Mehrheit weiß sehr wohl, dass es knallharte Realität ist, wie es um den Zustand unseres Planeten bestellt ist. Wie löst man diesen Widerspruch?
Unser Bildungssystem ist eine weitere interessante Baustelle. Was wird vermittelt? Wie nahe ist diese Vermittlung am sich rascher weiter drehenden „Draußen“? Überfordern wir unsere Kinder, indem wir sie von klein auf einem Bildungsstress aussetzen und ihnen die Freude am Wissenserwerb vermiesen? Der Wettbewerb beginnt schon bei der Geburt. Herzlich willkommen im Leben.
Gleichzeitig – frage ich: Werden unsere Kinder für das Leben ausgebildet oder nach Schema F und einem Lehrplan, der an Starrheit und Überfrachtung nicht zu überbieten ist? Werden Studierende mit einem Wissen in die Praxis entlassen, das teilweise Stand der 1960er und 1970er Jahre ist? Gleichzeitig wird von den jungen Menschen verlangt, rasch, aktuell und praxisbezogen zu studieren. Sie stehen unter einem enormen inneren Druck, kommen teilweise vollkommen an der Realität vorbeigehend aus den Universitäten und müssen nochmals beginnen, zu lernen. Dabei schreibe ich nicht vom lebenslangen Lernen – auch so ein wunderbares Schlagwort, das sehr wenig mit Leben befüllt ist. Umschulung von über 50-Jährigen ist kein lebenslanges Lernen, sondern eine arbeitsplatzpolitische und oft sozialpolitische Maßnahme. Bitte um Ehrlichkeit!
Wie hat sich unser Sicherheitsbedürfnis in diesen Jahren verändert? 9/11 war schon einige Jahre vorbei und viele dachten, mit dem Auslaufen von Al Qaida hat sich der Terrorismus erledigt. Ja, da gab es die Attentate von Madrid und London. Ja – natürlich. Doch irgendwie schien die Luft draußen zu sein. Friede herzlich willkommen.
Und dann tauchte parallel dazu der Islamische Staat auf und entwickelte sich ab 2014 von einer Untergruppe von Al Qaida zu einer eigenständigen Gruppe, die aktiv um Mitglieder für Bürgerkriege und Terroranschläge wirbt. Wer immer ihr Erscheinen wodurch auch immer begünstigt hat – es ist wie beim Zauberlehrling: Die ich rief, die Geister,/Werd ich nun nicht los.
Der IS agiert in Syrien und im Irak, zwei Staaten, die am Zerfallen sind. Manche nennen sie failed states (also bereits zerfallene Staaten). Um seine Interessen durchzusetzen und aufmerksam zu machen, folgten ein Anschlag auf den nächsten. Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Schweden etc. – sehr oft Staaten, die in der Koalition gegen den IS aktiv sind, waren von Anschlägen betroffen.
Was waren die Reaktionen? Noch mehr Überwachung. Noch mehr Kontrolle. Noch mehr Gesetze. Menschlich verständlich – doch wie wirkungsvoll sind diese Regulative? Mir ist bewusst, dass ich stark verkürze. Doch die Frage nach der Wirksamkeit von Regeln, die nicht in die Tiefenstruktur gehen und die Frage an der Wurzel ihrer Entstehung beantworten, sind zum Großteil Oberflächenkosmetik. Zugegeben – es ist nicht einfach und vor allem auch nicht angenehm, in die Tiefe der Entstehung dieses Problemkomplexes zu gehen. Eine Lösung findet jedoch nur dort statt.
Bemerkenswert ist auch, wie abgestumpft die Reaktion auf Anschläge mittlerweile ist. Wer nicht direkt betroffen ist, nimmt die Anschläge zur Kenntnis. Die zeitweilige Betroffenheitsindustrie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Anschläge sind zur Gewohnheit geworden. Sie sind Teil unserer Alltagsrealität geworden. Man stelle sich das einmal vor?! Ist das eine Aufgabe dessen, was wir als Sicherheit bezeichneten, als unsere gesellschaftliche Realität, die von Freiheit und Toleranz gekennzeichnet war? Die Frage nach der Aushöhlung des Rechtsstaates harrt nach wie vor einer ernsthaften Antwort. Wie weit sind wir bereit zu gehen? Wie weit können und wollen wir Einschränkungen akzeptieren?
Die Flüchtlingswelle von 2015 mit der von vorher sehr starken Migration in den europäischen Raum ist ein weiterer Bereich, der zu gravierenden Verwerfungen in europäischen Gesellschaften führte. Vieles ist noch gar nicht abschätzbar. Wir wissen schlicht nicht, wie wir mit der Masse an Menschen umgehen sollen, die bislang kamen und noch kommen werden. Wir haben keine Antworten auf viele ihrer Fragen. Wir haben keinen sinnstiftenden Platz, um ihnen ein längeres Verweilen auf Basis einer Eigenständigkeit und Eigenverantwortung auch zu ermöglichen. Wir bemühen uns um Integration, zweifellos. Und viele, die nach Europa kommen, bemühen sich ehrlich, um ihren Platz bei uns zu finden. Doch die Masse kann es schlicht nicht. Bildungsdefizite, kulturelle Unterschiede (die natürlich mit Willen überwunden werden können), Massentraumatisierungen durch die Flucht, teilweise auch die innere Haltung, sich jetzt endlich von den Habenden etwas, das einem genommen wurde (und sei es vor einigen Generationen durch die Kolonialisierung und durch Großmachtpolitik), nun zurückzuholen … und es gibt noch viel mehr Faktoren, die zu einem Amalgam zusammenspielen. Dieses Amalgam zeigt sich im täglichen Umgang mit Flüchtlingen, in der jeweiligen Überforderung, im Abwehrverhalten, in einer Ohnmacht und Ratlosigkeit – schlicht in einer großen, kollektiven Überforderung. Wir und die Anderen ist Realität. Abgrenzung und Ausgrenzung sind Realität. Hilflosigkeit im Umgang mit dem Anderen ist Realität. Das Meer an Flüchtlingen ist Realität. Die gesellschaftlichen Verwerfungen sind Realität.
Auch die Artikulierung von Interessen hat sich in den vergangenen 9 Jahren verändert. Wenn man sich die Parteienlandschaft von 2008 in Europa ansieht und sie mit der Parteienlandschaft von 2017 vergleicht, ist diese Veränderung offensichtlich. Rechts und Links haben als Strahlkraft verloren. Die Mitte ist abhanden gekommen. Antworten fehlen, weil man sich lange an den gesellschaftlichen Kernfragen vorbeidrückte. Sie waren nicht willkommen, weil sie eine grundsätzliche Haltungsänderung gefordert hätte. Als noch Zeit dafür war, hat man es verschlafen und/oder ignoriert. Mittlerweile ist die Dynamik derart angewachsen, dass es keine Pufferzeit für Reaktionen mehr gibt. Hier ist der Sachverhalt – im gleichen Atemzug werden die Antwort und die Lösung gefordert. Alleine das zu erkennen, erfordert mehr als nur ein grundlegendes Verständnis für komplexe Lagen. Und doch – die Menschen fordern die Hier-und-gleich-Antworten, weil sie direkt betroffen sind.
Mittlerweile werden Bewegungen anstatt neuer Parteien als Plattform zur Interessensartikulierung gegründet – manche gewinnen damit sogar die Präsidentschaft eines entscheidenden europäischen Staates. Man will mit den Altparteien nichts mehr zu tun haben. Es ist endlich Bewegung in die starren Strukturen politischer Interessensvertretungen gekommen. Das ist wichtig und richtig. Doch man erwarte nicht, dass Bewegungen die Lösung zu unseren großen Fragen bieten. Sie sind Zwischenstationen in diesem großen kollektiven Umbruch. Neben Bewegungen wirken Parteien und Gewerkschaften, bei allem, was sie für Menschen zuwege brachten, heute altbacken. Sie haben die Erneuerung von innen heraus nicht ausreichend geschafft, weil viele an den Futtertrögen von Macht und Einfluss hängen blieben. In den alten Parteien gärt es. Widerspruch wird nicht mehr verschämt versteckt, sondern – solange es noch möglich ist – offen ausgedrückt. Wer oben ist, muss sich dem stellen – oder sie/er darf gehen. Es hat sich eine gewisse Kompromisslosigkeit eingestellt, weil der Druck derart angewachsen ist. Das ist die Chance für Rattenfänger. Es ist auch die Chance für neue Gesichter, die mutig und vertrauensvoll zugleich sind, die wahrhaftig sind und ehrlich sagen, was möglich und was im Moment noch nicht möglich ist. Die Spreu trennt sich vom Weizen. Sehen wir, was das erste Zwischenergebnis sein wird.
Eine ein wenig abstraktere Sichtweise – der strategische Blick
Will man oben Angeführtes strategisch sehen, also mit dem Blick vom berühmten Turm, dann kann man Folgendes ausmachen:
Es gibt 5 große Pfade, die strategisch relevant sind:
Die Wahrnehmung von Realität hat sich verändert. Was als Binsenweisheit klingen mag, zeigt sich bei näherem Blick als etwas Hochkomplex-dynamisches, das bar jeglicher bekannten Objektivität und Objektivierbarkeit ist. Die Realität bzw. das, was dafür gehalten wird, wird von scheinbar objektiven Bildern in Echtzeit, die bei politischen Entscheidungsträgern wie bei den Bürgern unmittelbare Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen auslösen, geprägt. Alte, zum Teil sehr lange Zyklen, neigen sich synchron in einer sich überlagernden Art und Weise dem Ende zu. Die neue Grundwahrnehmung ist in vielem noch unspezifisch und unklar. Sie ist mehr ein Gefühl denn ein Faktum. Erosionsprozesse – gleich, wohin man blickt – kennzeichnen die sogenannte Realität.
Es gibt eine Erosion des klassischen Verständnisses von Macht und ein nie vorher gekanntes, breiteres und vielschichtigeres Spektrum von Macht. Dies drückt sich z.B. in einer höheren Partizipation, in einer Ermächtigung von größeren Gruppierungen und einer Dezentralisierung von Macht aus. Zudem gibt es andere Formen von Macht wie z.B. die Flashmobs, die Macht über den Cyberspace ausüben. Die Neu- und Umverteilung von Macht im Sinne eines mehrlagigen, komplexen Konzeptes betrifft Führende in einer ganz natürlichen Art, weil Führung mit Machtausübung wesensinhärent verbunden ist.
Der Einzelne fühlt sich heute gleichzeitig selbstbestimmt und mehr denn je als autonomer Teil eines größeren Ganzen (z.B. Erfindung des Internet, von sozialen Medien). Mittlerweile zeigen sich die Schattenseiten der Vernetzung, der ‚Immer-und-überall-Erreichbarkeit‘ des nicht mehr Überblickens der Informationsflut, geistiger Orientierungslosigkeit und eines kollektiven Bewusstseins, das im wahrsten Sinne des Wortes aus der Dose d.h. den Pads und Laptops kommt und die Eigenständigkeit, Eigenverantwortung und Originalität im Denken und Handeln völlig in den Hintergrund gedrängt hat. Das Bild des Menschen von der Welt wird beliebig konstruierbar und er verliert das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein. Religiös vermittelter Sinn ist ebenso wie das Wertebewusstsein beliebig geworden. Es geht zudem um die gerade für demokratische Gesellschaftssysteme existentielle Herausforderung, die Autonomie und Selbstbestimmung der Bürger als Voraussetzung eines freiheitlichen Gemeinwesens zu erhalten, weil andernfalls das Ganze erodiert.
Das gesellschaftliche Sein ist hyper-ökonomisiert. Die Ökonomisierung ist ein seit Jahrzehnten andauernder Prozess in unterschiedlichen Qualitäten. Sie umfasst die Politik ebenso wie die Bildung und den Vertrieb von Wissen. Der Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Menschen ist weltweit primär ökonomisch definiert und zielt auf Wohlstand, Wachstum und die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Freiheit, Gleichheit und die Einhaltung der Menschenrechte werden faktisch von den meisten Menschen als ungehinderten, „freien“ und „gleichen“ Zugang zu Konsumgütern verstanden. Freiheit meint im Regelfall primär als Freiheit zum Zugang und zur Gestaltung des Marktes. Politik, Bildung und Wirtschaft waren noch nie so eng miteinander verknüpft wie heute.
Eine veränderte Raum- und Zeitwahrnehmung führt zu qualitativ neuen Erfahrungswelten. Neues veraltet rasch – es gibt kaum mehr sogenannte Halbwertszeiten für Informationen, weil sie sich der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit sehr oft entziehen. Ein Stakkato von Veränderungen verbreitet das Gefühl eines undefinierten Vakuums, einer Gefangennahme in den Wirren der nie enden wollenden Veränderung. Wege verwischen und verlaufen sich. Dabei entsteht bei vielen die Wahrnehmung, in einer scheinbaren Raum-Zeit-Falle gefangen zu sein – scheinbar, weil man ja jederzeit die Wahl hat, auszusteigen – man drehe Smartphone ab – und sieht unmittelbar die Folgen. Zudem vollzieht sich eine gleichzeitige Stauchung und Streckung von Raum und Zeit. Es lässt sich wohl metaphorisch von einer Raumzeit oder einem Raum-Zeit-Kontinuum im Sinne einer Vereinigung von Raum und Zeit aufgrund der rasanten Geschwindigkeit sprechen. Die räumlichen und zeitlichen Koordinaten bei Transformationen in andere Bezugssysteme werden miteinander vermischt. Im Ergebnis hat sich die Wahrnehmung von Raum und Zeit grundlegend verändert und verändert damit auch den Führenden und die Geführten – und – als Konsequenz das Führungsverständnis.
Alte Modelle adé – Alte Antworten passé?
Ich beobachte vor allem seit gut zwei Jahren, dass alte Modelle und alte Antworten, die wir oft reflexhaft gaben, an allem und jedem vorbeizielen. Sie gehen ins Leere. Das fing ganz langsam an und zeigt sich beispielhaft an vielen der oben dargestellten Themen. Ich konnte das bei meinen Arbeiten auch beobachten und durfte mich grundlegend umstellen.
Wenn man also gewohnheitsmäßig antwortet und keine Reaktion erzielt, dann herrscht im ersten Schritt Verwunderung, wenn man es überhaupt merkt. Man versucht es nochmals und nochmals. So lange bis, man erkennt, das Mittel wirkt nicht mehr. Warum auch immer.
Dann folgt die interessanteste Zeit. Es ist die Zeit der Leere. Das mag esoterisch klingen und sich vielleicht abstrakt anfühlen. Es mag wie auf Watten schlagen sein. Nichts rührt sich – im Gegenteil, der Zug fährt in die ungewünschte Richtung weiter. Und zwar meistens mit noch mehr Fahrt aufnehmender Geschwindigkeit und in unkontrollierbare Richtungen.
Das ist das Wesen von komplexen Lagen. Die Mehrschichtigkeit braucht andere Antworten als einfache Situationen. Wir sprechen gerne über Komplexität, doch die wenigsten haben das Wesen von Komplexität erfasst. Ich gebe zu, es ist auch nicht einfach, denn man muss in mehreren Ebenen und Dimensionen denken. Es ist ähnlich einem Schachspiel, doch nicht gleich diesem Spiel der Könige.
Es fehlen uns Denkansätze, die der Komplexität von 2017 und den Folgejahren gerecht werden. Wir sind im stovepiping und in der compartimentalization regelrecht gefangen. Alles ist in unseren Gedanken schön abgezirkelt und in Schächtelchen gelagert.
Nochmal: komplexes Denken ist schwierig. Es gibt keine Pauschalantworten, die man dem Boulevard vorsetzen kann. Es verlangt Zeit und es gibt keine Gelinggarantie mit einem garantierten outcome. Sie können natürlich gerne weiterhin Pläne machen, doch planen Sie den Müllkübel für diese Pläne gleich mit ein.
Und doch gibt es am Horizont einen Silberschein. Da und dort zeigen sich bereits neue Ansätze. Das ist das Wesen in der Spalte von Alt und Neu – es ist eine Art Niemandsland. Experimentell, manches Mal schon durchaus ausgegoren und im Kleinen funktionsfähig sieht man diesen Silberschein. Nun mögen Sie sagen – die Pioniere gab es immer. Sie werden es schon für uns richten. Wenn nicht sie, dann ihre Nachfolger. Pioniere tritt man ja ob ihrer scheinbar kruden Ideen gerne in die berühmte Tonne. … Und dann holt man diese Ideen doch wieder aus der Tonne und sieht sie sich an, wie beispielsweise bei Nicola Tesla und Elon Musk.
Diese Menschen sind die eigentlichen Treiber im Kollektiv. Es braucht nicht viele von ihnen. Was es braucht, ist die kritische Masse, die ihre Ideen unterstützt und ihnen die Chance auf Umsetzung und Weiterentwicklung gibt. Das gilt für alle Bereiche von Gesellschaften. Ich meine damit nicht die Spitzenforschungsförderung. Sie ist ein Teil davon. Ich meine auch nicht die Elitenförderung. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass es mehrere Ebenen sind, die wir bespielen müssen. Wir müssen uns an Rückschläge gewöhnen, an das mehrfache Herangehen an Ideen, das schrittweise Entwickeln. Nichts davon ist neu. Wir haben es vielleicht in unserem Höher-Weiter-Schneller einfach vergessen.
Und was nun?
Wir befinden uns also kollektiv mitten in der Spalte zwischen Alt und Neu, in diesem Niemandsland, wo vieles möglich ist. Ich betrachte dies als den aufregendsten ZeitRaum und die spannendste RaumZeit. Sie wird sich noch über einige Kalenderjahre erstrecken. Das sollte uns nicht Angst machen, sondern wir sollten es als Chance begreifen. Es ist auch eine große Chance, sich unserer eigenen, individuellen Möglichkeiten bewusst zu werden. Es ist die Chance, neue Strukturen und neue Inhalte abzubilden. Das braucht Bewusstsein, Mut und ein Grundvertrauen als Basisausstattung – unbeschadet, wo sie gerade nachlesen, wie es denn gehen könnte. Wahrhaftigkeit ist auch eine sehr gute Währung dieser Zeit.
Was kann man also jenseits der Basisausstattung tun, um mit dieser Phase umgehen zu können? Je nachdem wo Sie nachsehen, werden sie ganz unterschiedliche Antworten auf diese Frage lesen. Nachdem ich mich seit fast 30 Jahren mit Übergängen und Umbrüchen befasse, kenne ich viele dieser Antworten.
Eine davon lautet: es ist in der Umsetzung jedes Mal anders. Es gibt keine Standardantwort. Machen Sie eine saubere Istanalyse und dann springen einem die Antworten entgegen. Nun – das mag bislang durchaus so gewesen sein. Istanalysen sind sicherlich ein brauchbarer erster Schritt, doch nicht das Ziel.
Ich gelte als Pionierin, habe keine Angst vor Veränderungen und setze mich leidenschaftlich mit ihnen auseinander. Was ich erkannt habe, lässt sich folgendermaßen umreißen:
Anerkennung, dass wir in einem ganz markanten, sich über mehrere Jahre ziehenden Bruch leben, der die gesellschaftliche Tiefenstruktur global beeinflusst – ergebnisoffen, wie es so schön heißt .Aushalten einer gewissen strukturellen und inhaltlichen Leere. Wir wissen, dass wir im Moment nichts wissen. Das ist keine Entschuldigung und auch keine Erklärung – wofür auch. Es ist bestenfalls eine Entlastung des Geistes. Er wird auf Null gestellt und vor dort aus geht es in den ersten Schritt. Nur der ist wichtig. Wir müssen lernen, auf Sicht zu fahren. Und wir müssen lernen, dass das Leben aus ein- und aus ausatmen besteht und nicht nur aus einem davon.
Anerkennung, dass wir heute keine wirkliche Ahnung vom Endergebnis haben. Das Wesen der Komplexität ist die Unvorhersagbarkeit im klassischen Sinn. Natürlich können wir Szenarien konstruieren. Sie beruhigen unseren Geist und vielleicht auch unser Gewissen. Mehr jedoch nicht.
Anerkennung, dass es wahrscheinlich kein sogenanntes Endergebnis geben wird, sondern eine Fülle von Zwischenergebnissen, die einander hochgradig beeinflussen und damit die nächsten Schritte bestimmen.
Anerkennung, dass Pläne eine völlig neue Qualität erhalten. Sie sind deutlich flexibler zu halten und sie sind bestenfalls ein Orientierungsgeländer und die Rechtfertigung, um von einer eingeschlagenen Richtung abzuweichen.
Wesentlich ist das Erkennen von Zyklen und Rhythmen. Damit ergeben sich gewisse Handlungen nahezu von selbst. Zyklen und Rhythmen sind ein natürlicher Bestandteil menschlichen Seins. Jede Gesellschaft und Gemeinschaft entwickelt sich zyklisch. Das ist Ausdruck von Werden und Vergehen. Rhythmen hingegen geben Takt und Tempo vor. Mal schneller, mal langsamer, nicht hasten, nicht schleppen. Sich organisch hier einzufügen, gibt die Möglichkeit mitzubestimmen. Wer dagegen arbeitet, kämpft, plagt sich und erreicht unter dem berühmten Strich nur sehr wenig.
Das Erkennen und Leben von alten Lebensprinzipien erleichtert diesen Übergang ebenfalls. Dies ist kein esoterisches Gemurmel, nichts Magisches, sondern vielmehr ein Grundrüstzeug, um durch den Übergang heil zum neuen Ufer zu gelangen (siehe dazu http://www.huffingtonpost.de/andrea-riemer/ diverse Beiträge aus dem Jahr 2015, wo ich dies bereits darlegte). Übergänge, vor allem große gesellschaftliche Übergänge verlangen eine Reduktion von Komplexität. Lebensprinzipien sind ein Weg, diese Reduktion zu erzielen. Es gibt sicherlich auch noch andere Möglichkeiten. Ich halte es in komplexen Lagen mit der Einfachheit. Und diese Prinzipien sind einfach im Erfassen und in der Anwendung.
Es sind Entscheidungen gefordert – und zwar ohne Gelinggarantie. Man kann nicht Nichtentscheiden. Abwarten und zögern ist auch eine Form von Entscheidung. Beharren und stehenbleiben ist auch eine Form von Entscheidung. Es geht vor allem um die bewusste Entscheidung. Damit sind Macht und die Verantwortung für die Konsequenzen verbunden. Nur an der Macht zu hängen, geht nicht. Es ist ein Paket, das man einkauft. Macht verlangt Entscheidungen und Verantwortung. Und sie verlangt ein Unterscheidungsvermögen, was hier und jetzt geht und sinnstiftend ist und was eben hier und jetzt nicht passt.
Es fängt immer beim Einzelnen an. Vom Einzelnen aus ergeben sich Kooperationen, die auf echter Zusammenarbeit und auf Mitgefühl basieren. Das funktioniert ja auch schon jetzt – es werden mehr dieser Kooperationen entstehen. Das mögen Insellösungen sein und Inseln können ja bekanntermaßen unterschiedliche Größen aufweisen. Dann geht es im nächsten Schritt ums Brückenbauen.
Es wird andere Führungspersönlichkeiten geben müssen, Menschen, die mich sich im Reinen sind und in der Lage und willens sind, Verantwortung für sich und für eine Gruppe zu übernehmen. Wer sich selbst nicht führen kann, kann auch andere nicht führen. Fangen wir also bei uns selbst an und parallel dazu entwickeln sich neue Führungskräfte, die in der Lage sind, mit der geänderten Großwetterlage umzugehen, sie zu gestalten und vor allem vor der Lage zu agieren.
Es wird keine One-and-Only-Lösung geben. Es wird viele verschiedene Wege geben, die sich ergänzen und auch widersprechen können. Das werden wir aushalten müssen.
Wer nicht mitgeht, wird auch überleben – in ihrer bzw. seiner Art und Weise – und das muss nicht unbedingt schlecht sein. Wer mitgeht und sich auf den eigenen Weg macht, der wird anfänglich nicht unbedingt eine einfache Zeit haben. Doch wer durch diese Anfangsschwierigkeiten durchgeht, der hat eine realistische Chance, das eigene Leben zu führen, d.h. sich selbst sicher und lebend auf die andere Seite des Flusses zu führen. Und er hat die Chance, dass Menschen ihr/ihm folgen und bereit sind, sich dieser Führung – unter Beibehaltung der Eigenverantwortung – anzuvertrauen.
Es entstehen neue Beziehungen, neue Möglichkeiten, Möglichkeiten, die wiederum zeitgemäß sind und Gestaltung mehrheitlich ermöglichen. Und dann wird es so richtig interessant, frei und natürlich ohne Gelinggarantie.
Man kann diese Liste sicherlich noch fortsetzen. Im Sinne einer reduzierten Komplexität will ich es dabei belassen. Machen wir uns dran. Studieren und diskutieren wir diese Anregungen und noch einige darüber hinaus, die es sicherlich auch gibt. Denken wir darüber nach – bitte nicht zu lange, die Lage ist äußert fluide, wie es so schön heißt. Seien wir mutig und auch ein wenig vertrauensvoll in der Umsetzung. Nehmen wir Rückschläge mit Gelassenheit hin und bleiben wir am Weg – jede/r für sich und doch gemeinsam, denn: wir sind alle miteinander verbunden, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Es gibt dafür keine bessere Zeit dafür als JETZT.

Ersterscheinung am 10.10.2017 bei
http://www.huffingtonpost.de/andrea-riemer/im-niemandsland-zwischen_b_18227124.html

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