Im Grunde braucht es wenig für Heilung: Menschlichkeit. Anja Reiche

Und doch scheint genau das Mangelware zu sein. Ich kann mir noch so sehr Heilung auf die Fahne schreiben, wenn ich selbst nicht da bin, nicht mit mir verbunden, nicht in meine eigenen Untiefen hinabgestiegen, kann ich nur bedingt begleiten, Raum halten, und eben nicht in den krassesten Emotionen mit dem anderen da sein. Sie berühren Stellen, die ich selbst noch nicht berührt habe und an dem Punkt bräuchte es dann erst einmal die Selbstbegegnung mit mir. In solchen Momenten bräuchte ich mich selbst und/oder jemanden, der mich unterstützt, begleitet und hält.

Tue ich das nicht, nehme ich mich selbst aus der Gleichung raus als Mensch, dann verwende ich Kontrolle, Konzepte und Methoden, stelle Regeln auf, gebe Anleitung, wie „das“ schnell wegzumachen ist und wenn es dem „Patienten“ nicht gelingt, dann muss an ihm etwas falsch sein oder er etwas falsch machen.

Ehrlich wäre, in diesem Moment zu sagen, dass ich an meine Grenzen gestoßen bin, dass ich ohnmächtig bin, dass ich nicht weiter weiß, dass ich da noch nicht war und selber erst hin muss.

Die Therapie- und Coaching-Welt ist voll von genau diesem Phänomen: „Helfer“, die keine Menschen mehr sind. Unnahbar. Nicht berührbar und sogar dazu angeleitet, unmenschlich zu sein. Distanz ist vorgeschrieben oder sogar selbst gewählt. Nur keine körperliche Berührung. Nur keine Offenheit. Keine Selbstoffenbarung. Keine eigenen Gefühle. Alles, was wirklich heilsam wäre, findet nicht statt oder nur in seltenen Momenten oder Ausnahmesituationen.

Und am besten werden die eigenen Themen und Wunden noch dem „Patienten“ hingeschoben und dieser dazu angeleitet, dass der „Helfer“ nicht mehr getriggert wird. Halleluja! Die Zustände sind mehr als erschreckend.

Immer wieder erlebe ich selbst, wie simpel es eigentlich ist, tatsächlich ein Leben zu retten. Mit bloßer Menschlichkeit, mit Berührbarkeit, Offenheit, Transparenz, Nahbarkeit, Selbstreflektion und einem Mitgefühl, das tatsächlich mitfühlen kann, weil es die Untiefen des anderen selber kennt oder/und erfassen kann.

Tatsächlich begriffen zu werden, tatsächlich gesehen zu werden, mit allem da sein dürfen, nicht anders sein müssen, nicht verurteilt werden, sondern angenommen sein und verstanden werden, lässt Heilung in kürzester Zeit möglich werden. Alles, was wir als Kind gebraucht hätten, bringt auch als Erwachsener den Segen: Arme, die halten, ein ruhiges Nervensystem, Raum für jede Emotion und jeden Gedanken, ein echtes, erwachsenes, reifes, greifbares, wohlwollendes Gegenüber, das DA ist. Weise handelnd, sich selbst wahrnehmend, das nur agiert, wenn es stimmt und den anderen lässt, weil es um die Größe weiß, das nach Stimmigkeit handelt, den Raum, die Situation und den Moment fühlend erfasst. Ein Gegenüber, das allerdings auch Nein sagt, seine Grenzen wahrt und bemerkt, wenn der andere nicht in der Eigenverantwortung ist, wenn die inneren Kinder ankommen und kein Beobachter mehr zugegen ist.

Es braucht im Grunde nicht viel. „Nur“ echte Menschen. Tatsächliche Erwachsene. Emotional, nicht nur körperlich. Und eigentlich ist das in Anbetracht der Zustände verdammt viel und selten.

Mir kommt es vor, dass es für eine mir sehr vertraute, relativ große Gruppe von Menschen nichts anderes zu tun gibt, als nachzureifen, tatsächlich erwachsen zu werden, das selber irgendwie hinzubekommen, um dann für andere die Erwachsenen sein zu können, die wir selbst gebraucht hätten, die diese Welt so dringend braucht. Tiefgetaucht. Auf Herz und Nieren geprüft. Tausendfach durchgestorben. Mensch durch und durch, um diesen tiefliebenden Dienst am Leben zu tun und Menschen mit purer Präsenz zurück ins Leben zu begleiten.

Ich hab den Eindruck, dass wir sehr bald sehr gefragt sind. In Gottes Namen. Unser Job ist Menschlichkeit.

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