Antonia von Fürstenberg: „Achtsamkeit – die Kunst der heilsamen Lebensführung“

Achtsamkeit – das Wort ist in aller Munde. Aber was bedeutet es eigentlich? Achtsamkeit ist verfeinerte Aufmerksamkeit von Moment zu Moment und eine Form der Meditation. Diese Meditationsform kommt ursprünglich aus dem Buddhismus, ist aber heute nicht unbedingt an eine religiöse Tradition gebunden. Der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn hat das Krankenkassen-anerkannte Stresspräventionsprogramm Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) aus Wahrnehmungs-, Atem- und Körperübungen entwickelt, die ihren Ursprung in Yoga, Vipassana- und Zen- Meditation haben. Dabei geht es um die Achtsamkeitsmeditation nach buddhistischer Tradition. Diese ruht auf vier Säulen.

Die Achtsamkeit richtet sich dabei

1. auf den ganzen Körper: Die Aufmerksamkeit wird auf den Atem gelenkt, auf die Sinnesempfindungen, auf körperliche Empfindungen wie Entspannung, wohltuende Energieströme, aber auch auf Verspannungen, Schmerzen, Blockaden, Hitze- oder Kälteempfindungen im ganzen Körper.

2. auf die Gefühle: Oft sind körperliche Empfindungen an Gefühle gekoppelt. Hier spielt die Bewertung der Gefühle eine Rolle, also die Frage, ob auftauchende Gefühle als positiv, negativ oder neutral bewertet werden.

3. auf den Geist: Hier stellt sich die Frage: Ist das Denken klar und konzentriert? Oder rast der Geist wie ein wildgewordener Affe auf einer Palme rauf und runter, springt von einem Thema zum nächsten?

4. auf die Inhalte und Objekte des Denkens in jedem Moment: Hier werden körperliche Empfindungen, Gefühle, Handlungsimpulse, innere Bilder und Gedanken bewusst und aufmerksam betrachtet. Alles, was auftaucht, darf kommen und gehen, es wird akzeptiert, aber nicht bewertet.

Eine neutrale, beobachtende Position verhindert mögliche Projektionen und Identifikationen. Im Buddhismus bedeutet das, nicht „anzuhaften“, also von Moment zu Moment zu leben, im „Jetzt“. Regelmäßig praktizierte Achtsamkeitsmeditation hat Auswirkungen auf unsere Lebensführung, denn „wenn die Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit. Wenn sie etwas Schmerzvolles berührt, wandelt sie es um und heilt es.“ (Thich Nhat Hanh).

Schönheit entdecken

Wie kann Achtsamkeit eine alle Lebensbereiche umfassende Wirkung haben? Weil sie uns lehrt, das Schöne über das Sinnesempfinden zu entdecken. Achtsame Wahrnehmung intensiviert die Sinnesempfindungen. Wir lernen, unsere Nahrung bewusst zu betrachten, zu riechen und zu schmecken. Wir können den Duft einer Rose oder den Geruch der Erde nach einem Sommerregen wahrnehmen und genießen. Achtsamkeit verstärkt die Beobachtung von Bewegungen, Formen und Farben, macht uns die Schönheit der Natur, der Menschen und Lebewesen, der künstlerischen Gestaltung von Bauwerken und Dingen sichtbar. Wir erfreuen uns an den Ausdrucksmöglichkeiten unserer Stimme, die unsere Körperzellen zum Tanzen bringt, an der Vielstimmigkeit und den Harmonien in der Musik.

Wir lassen uns berühren von Wind, Wasser und Sonne, aber auch von der Hand des Kindes oder des alten Menschen, die nach der unsrigen greift, von einem Lachen, einer großherzigen Tat. Wir erfreuen uns mit allen Sinnen an dem, was das Leben auf diesem Planeten zu bieten hat, anstatt uns im (Mit-)Leiden zu verlieren. Und wir erkennen uns selbst durch die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit. Selbsterkenntnis ermöglicht, Projektionen, negative Glaubenssätze und Bewertungen über uns und andere loszulassen und Selbstakzeptanz und -mitgefühl zu entwickeln.

Je öfter wir meditieren – mit Neugier und Wahrhaftigkeit uns selbst und unseren Schwächen, Schmerzen und Leiden gegenüber –, um so mehr entdecken wir: Wer sich selbst fühlt und liebt, kann sich in andere einfühlen und sie lieben. Achtsamkeit ist also mehr als die Prävention und Selbstregulation von Stress. Mit zunehmendem Gewahrsein reduzieren sich gewohnheitsmäßige, der Situation nicht mehr angemessene Reiz-Reaktionsmuster. Der Psychiater Viktor Frankl sagte: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Als Menschen haben wir die Fähigkeit, uns selbst mit unseren Gedanken- und Verhaltensmustern zu erkennen, wenn wir durch Wahrnehmungsverfeinerung den Raum zwischen Reiz und Reaktion weiten. Die Freiheit, eine Reaktion bewusst zu wählen, verhindert das zwanghafte, automatische Befolgen einer Norm, die durch eine rigide Erziehung von Eltern und Lehrern, durch eine Religion oder durch starre gesellschaftliche Regeln den Menschen unfrei, würdelos und leidend macht. Normopathie ist die Krankheit, es allen recht machen zu wollen, nur nicht sich selbst. NORMale Depression ist die Folge, die sich in Beziehungsunfähigkeit, Burnout, Süchten, Verrohung und psychosomatischen Krankheiten äußert. Durch eine achtsame Lebensführung werden wir unabhängiger von internalisierten Normen und äußeren Bewertungen und damit authentischer, kreativer, zarter und liebevoller.

Das Glück und die Lebensfreude wird nicht so sehr im Außen gesucht, sondern wir sind bei uns selbst „zu Hause“. Das Verlieren in Grübeleien und Angstphantasien, die Verstrickung in das eigene Leid oder in das Leid anderer, die Sucht nach Liebe, Anerkennung und Glück wird vermindert, je mehr wir uns selbst kennen- und akzeptieren lernen.

Die Fülle in der Leere

Der erweiterte Bewusstseinsraum lässt dich erkennen: Du bist wie ein Sandkorn in der Wüste, aber ein Sandkorn, das mit allen anderen Sandkörnern verbunden ist. Du spürst die Fülle in der Leere. In der Depression bist du dagegen verloren im Raum, ein Sandkorn unter Billionen, aber unverbunden, allein. Sozusagen die Leere in der Fülle. Betrachte die Achtsamkeit als ein Geschenk, das dich stark macht auf deinem Lebensweg. Du begegnest auf diesem Weg all deinen Sorgen, Ängsten und Nöten. Habe den Mut, sie anzuschauen und zu erfahren. Vielleicht schmerzt dein Körper, vielleicht wirst du von negativen Gedanken wie Hass, Trauer, Wut oder einem Gefühl der Sinnlosigkeit bedrängt, vielleicht hast du Angst und kannst es kaum erwarten, mit der Meditation aufzuhören.

Es sind Gefühle, die kommen und gehen, wenn du sie akzeptierst und sie liebevoll bezeugst, sie also wahrnimmst, ohne sie „weghaben“ oder verändern zu wollen. Du wirst nach einiger Übung immer öfter und schneller eine tiefe innere Ruhe und einen Frieden erleben, der aus dem Gefühl einer großen Verbundenheit mit dem Selbst und dem universellen Sein entsteht. Ganz zurückgezogen auf dich selbst, weitet sich dein Ich, erkennt sich in allen Lebewesen und im Unendlichen. Das schmerzvolle Gefühl von Einsamkeit und Ausgegrenzt-Sein verliert sich. Der Geist wird stabil und klar. Du bekommst ein Gefühl für deine Würde und persönliche Integrität, für deine Visionen und die Kraftquellen, die es dir ermöglichen, auch Krisen und schwierige Lebensumstände zu meistern.

Du lässt dich nicht mehr zum Objekt machen. Minderwertige oder übermäßige Nahrung, Drogen-, Liebes-, Sex-, Kauf- oder Arbeitssucht, stundenlange Sitzungen vor dem TV/ PC oder das Zusammensein mit destruktiven Menschen – du erkennst Negatives und schützt dich. Und du praktizierst, was dir gut tut und heilt: Zusammensein mit Familie und guten Freunden, Bewegung in der Natur, stilles Sitzen, Kreativität und das Streben nach Realisation der Ziele, die für dich Sinn und Bedeutung haben. Nicht nur seelische, sondern auch körperliche Schmerzen lassen sich durch die Achtsamkeitspraxis verwandeln. Wenn du den Schmerz lokalisierst, sein Ausmaß und seine Begrenzung, die Empfindungen von Brennen, Kälte, Kribbeln, Reißen, Dumpfheit, Ziehen genau analysierst, vergeht der Schmerz oftmals. Dieses Phänomen entsteht, weil du den physischen Schmerz nicht mehr gefühlsmäßig bewertest und automatisch mit Abwehr und Verkrampfung reagierst, sondern ihn akzeptierst und ihn achtsam „unter die Lupe“ nimmst. So kann auch Schwieriges, wie eine chronische oder akute Schmerzerkrankung, durch einen achtsamen Umgang damit besser bewältigt werden.

Tiefgreifende Veränderungen

Achtsame Lebensführung kann also das Leben tiefgreifend verändern: Hin zu mehr Entscheidungsfreiheit und Kreativität und zu einem Gefühl von innerem Frieden und Glück, das nicht von Konsum und Status abhängt. Warum wird sie nicht in unseren Schulen gelehrt und gelebt statt Kinder mit möglichst vielen Sachinformationen zu füttern, um sie dann durch das Nadelöhr der Effizienz zu pressen? Das menschliche Innenleben braucht dringend Schulung, Zeit und Zuwendung, damit sich das sensorische, emotionale und geistig-spirituelle Wahrnehmen und Lernen entwickeln und vertiefen kann. Wie finden Kinder, die auf ständige Reize und Ablenkung durch Smartphone und soziale Medien getrimmt sind, zur Stille, die sie ihr inneres Sein gewahr werden lässt? Wie können sie entdecken, dass die Beschäftigung mit ihren Sinnen und ihrem Körperbewusstsein, mit ihren Gefühlen und Gedanken viel spannender ist als der ständige Hype im Außen? Wie lernen sie, selbstmitfühlend und selbstbewusst zu werden und eigene Gedanken darüber zu entwickeln, was ihnen gut tut? Wie können sie sich in Krisenmomenten selbst regulieren und kreativ und achtsam im Klassenverbund wie in der Familie agieren?

Dazu braucht es Lehrer, die in Achtsamkeitsmeditation oder MBSR ausgebildet sind und die Praxis leben. Dazu braucht es Eltern, die sich um Achtsamkeit bemühen. Solch frühe Förderung und Ausbildung zur achtsamen Lebensführung sollte sich fortsetzen in Unternehmen, Politik und Gesellschaft. Ein Bewusstsein für Suffizienz statt Effizienz, für Vielfalt und lokale wie globale Verbundenheit ist in Zeiten von Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung eine notwendig zu entwickelnde spirituelle Bewusstseinsdimension jenseits von Religions- und Nationalitätenwahn.

kommt ursprünglich vom Theater und ist Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet als salutogen* orientierter Business- und Life-Coach und als Kommunikationskünstlerin für Bildungsinstitutionen und Unternehmen. Ihre Schwerpunkte sind achtsame Persönlichkeitsentwicklung, salutogene Kommunikation und Kreativität.

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Buch:
Antonia von Fürstenberg: Mut zum neuen Leben – Selbsthilfe für Frauen in
Trennungskrisen von A bis Z, Shaker Media 2015*Salutogenese: „Entstehung von Gesundheit“, Orientierung an und Unterstützung von gesunden Anteilen und Kraftquellen. Pathogenese: „Entstehung von Krankheit“, Orientierung an Krankheitssymptomen und deren Bekämpfung.

Achtsamkeit – die Kunst der heilsamen Lebensführung